Im Deutschunterricht haben wir die Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann gelesen und besprochen. Ziel des Unterrichts war es, eine literarische Analyse auf der Erschliessung- und Deutungsebene am Beispiel von Hoffmanns Der Sandmann durchzuführen. Zudem haben wir die Epoche der Romantik, in der die Erzählung geschrieben wurde, kennengelernt.
Ein Blogbeitrag von Mohaddessa Hosseini
Für die literarische Analyse sind die Texterschliessung und Textdeutung essenziell. Auf der Texterschliessungsebene verfolgt man das Ziel, den Text als Ganzes zu verstehen. Dies beinhaltet nicht nur sorgfältiges Lesen, sondern auch das Nachschlagen unbekannter Begriffe sowie die Kenntnisnahme von Kommentaren zum Text. Auch der Austausch mit anderen Menschen trägt zum besseren Verständnis bei. Mit anderen Worten: Bei der Texterschliessung nimmt man den Inhalt wahr. Alle Handlungen und Ereignisse, von denen in der Erzählung erzählt werden, gehören zur Texterschliessung. So erfährt man in der Erzählung Der Sandmann, dass der Student Nathanael von einem Kindheitstrauma betroffen ist. Sein Vater und Coppelius führten Experimente durch, und Nathanaels Vater ist dann ums Leben gekommen, was zu Nathanaels lebenslanger Angst vor Coppelius führt. Nathanael verliebt sich zudem in Olympia, die eine künstliche Puppe ist und er begeht Suizid. All dies wird deutlich, wenn man die Erzählung liest und sich auf der Erschließungsebene damit auseinandersetzt. Erst nach diesem Prozess erfolgt die Textdeutung. Bei der Textdeutung ist das Streben nach der Bedeutung des Inhalts im Fokus. Die Erzählung Der Sandmann kann unterschiedlich gedeutet werden. Im Unterricht haben wir die Deutung von Sigmund Freud besprochen.
Der Sandmann, Coppelius stellt eine bedrohliche Vaterfigur dar, die Gewalt verkörpert und den Kindern Sand in die Augen streut und diese auch ausreisst. Der Verlust der Augen symbolisiert nicht nur die Zerstörung der Wahrnehmung, sondern auch den Verlust der Männlichkeit, da die Augen als Symbol für den männlichen Geschlechtsteil gedeutet werden können, den Nathanael verlieren könnte. Die Kastrationsangst wird dargestellt, indem Nathanael vor Coppelius fürchtet, da dieser ihm die Fähigkeit wegnimmt, Nachfahren zu zeugen. Zudem zeigt Nathanaels Faszination für Olympia, wie weit er sich von der Realität entfernt hat und die Grenze zwischen Realität und Illusion nicht mehr richtig wahrnimmt. Er idealisiert sie so sehr, dass er ihre offensichtliche Künstlichkeit nicht erkennt. Sein Glaube an ihre Menschlichkeit kann als seine Flucht vor seinem inneren Konflikt gedeutet werden, da ihre Künstlichkeit ihn anzieht und ihm eine Flucht aus der Realität ermöglicht. Zudem repräsentiert Olympia eine Welt, in der Nathanael alles versucht zu verdrängen, weil er alle Hinweise auf ihre Künstlichkeit ignoriert und die Wahrheit nicht ertragen kann. Bei dieser Textdeutung wurden beide Verfahren der Textdeutung durchgeführt. Beim textimmanenten Verfahren lässt sich die Deutung nur auf den Text stützen und ist somit nur auf den Text bezogen. Beispielsweise werden Figurenanalysen im textimmanenten Verfahren durchgeführt. Im Gegensatz zum textimmanenten Verfahren wird beim werkübergreifenden Verfahren neues Wissen ausserhalb des Textes angeeignet, um den Inhalt zu deuten. Eine Frage lässt sich möglicherweise mit dem Wissen, das man über die Biografie des Autors verfügt, beantworten. Beispielsweise die Frage nach der Bedeutung des Augenmotivs kann mithilfe der Deutung von Sigmund Freud erarbeitet werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Deutung ist die Einordnung der Erzählung in die Epoche der Romantik. Die Romantik, wie sie in der Literatur verstanden wird, unterscheidet sich deutlich von der modernen Vorstellung des Begriffs „romantisch“. In der Romantik besteht die Weltanschauung immer aus 2 Seiten. Auch der Mensch besteht aus 2 Seiten, bei der eine Seite immer dominiert. Dieses Merkmal der Romantik lässt sich an verschiedenen Stellen in der Erzählung wiederfinden. Clara und Olympia stellen auch Gegensätze dar, von der in der Romantik die Rede ist. Clara wird als eine sehr aufmerksame, logisch denkende, hilfsbereite Figur, die Rationalität verkörpert dargestellt. Olympia hingegen steht für eine Welt der Illusionen. Sie ist eine schöne Puppe, die aber leblos ist.
Solche Gegensätze begegnen uns oft im täglichen Leben. Es gibt immer wieder Situationen, in denen man zwischen vernünftigem und emotionalem Handeln schwankt. Beispielsweise, wenn man wichtige Entscheidungen zu treffen hat, was die Beziehung oder Freundschaft angeht, merkt man, wie die 2 Seiten uns hin und her reissen. Eine Seite sagt, dass wir vernünftig handeln sollten, und dient zu unserem eigenen Schutz, dass wir nicht verletzt werden. Die andere Seite beeinflusst uns mit romantischen, intensivierten Gefühlen und legt den Fokus auf unser Herz. Wir verblenden uns von der Illusion und lassen uns nur von unseren Emotionen steuern. Das «Hin und her reissen» verspürt man oft wie eine innere Spannung, die Stress auslösen kann. Deshalb ist es umso wichtiger, die beiden Seiten in Einklang zu bringen.
Ein weiteres Beispiel ist die Künstlichkeit in den sozialen Medien. In unserer Welt voller fortgeschrittener Technologien und sozialer Medien tritt Olympia in Form von perfekt inszenierten Selfies und bearbeiteten Videos von Menschen auf, die scheinbar das ideale Leben führen. Doch wie Olympia sind diese Darstellungen oft unecht und darauf ausgerichtet, etwas zu zeigen, das mit der Realität nicht übereinstimmt. Wir Menschen neigen trotz des Wissens, dass diese Inszenierungen unecht sind, dazu, diese als echt wahrzunehmen. Ähnlich wie Nathanael sehen wir die Grenze zwischen Realität und Illusion nicht. Diese Verblendung der Realität ist oft von unseren Emotionen gesteuert, da wir unbewusst die Perfektion als angenehmer empfinden.
Diese Künstlichkeit und somit die fehlende Erkenntnis des Unechten setzt viele Menschen unter Druck, weil sie denken, sie müssten mit dieser scheinbaren Perfektion mithalten. So können Unsicherheiten entstehen, vor allem bei den jüngeren Menschen. Zudem verblendet die ständige Konfrontation des Unechten unsere Sichtweise auf die Realität, da wir denken, dies gehöre zur Normalität.